Dann frage ich mich jedoch auch, ob diejenigen, die heute primär oder sogar ausschließlich auf Verhandlungen setzen, das auch vor gut achtzig Jahren den Alliierten empfohlen hätten. Und jetzt sage man mir nicht, dass wäre in wesentlichen Aspekten eine fundamental andere Situation gewesen. Jedenfalls kann die fundamentale Andersartigkeit nicht in der Existenz und Einsatzmöglichkeit von Atomwaffen liegen. Wenn das so gemeint ist, würde ich mir als (östliches) NATO-Mitglied tatsächlich größte Sorgen um die Verlässlichkeit meiner Bündnispartner machen und ihre Entschlossenheit, jeden Quadratmeter NATO-Gebiet im Falle eines russischen Angriffs zu verteidigen. Mit einem solchen Vorbehalt macht sich die NATO selbst zu einem Papiertiger.
Und was sich mir immer noch nicht erschließt, auch wenn das Argument auf den ersten Blick so plausibel erscheint, ist die aussuchende Zurückhaltung des Westens bei Umfang und Art der westlichen Waffenlieferungen mit dem Argument zu begründen, man wolle damit eine Kriegseskalation verhindern. Wir nehmen doch nicht wirklich an, dass Putin, dass als solches in seiner Kriegsstrategie berücksichtigen wird. Für seine Entscheidung weiter zu eskalieren gelten ganz andere Parameter. Wenn der Westen jedoch die Gefahr so gering wie möglich halten will, zu irgend einem Zeitpunkt selbst kämpfen zu müssen, sollte er der Ukraine alles für Ihren Sieg Notwendige so schnell wie eben möglich geben...
Ich jedenfalls möchte zukünftig nicht bei einer brüchigen Abwesenheit von Krieg in einer Staatenburg leben, während Ukrainer*innen unter einem menschenverachtenden System drangsaliert, verschleppt, gefoltert und ermordet werden. Es macht was mit dem kollektiven Selbstverständnis und dem Geist von Gesellschaften, wenn sie in einem entscheidenden Moment ihre Nachbarn im Stich gelassen haben. Es wird schon bedrückend genug, wahrscheinlich für eine lange Zeit hinter einem (militärischen) Bollwerk leben zu müssen, hinter der auch die Ukraine Schutz gefunden hat.Wer will, dass die Ukraine den Krieg mit möglichst wenigen Opfern gewinnt, tut aus politischer Klugheit und Vorsicht gut daran, nicht auf den Kanzler und die Sozialdemokratie zu vertrauen. So bitter diese Einsicht für mich auch ist (Sie kennen ja meinen historischen Vergleich von Chamberlain und Churchill aus einem der Vorschreiben) , so teile ich die Kanzler-Charakterisierung der Frankfurter Allgemeinen, die der Oppositionsführer vor wenigen Tagen in der Generaldebatte zu Haushaltsberatungen im Bundestag rezipiert hat. Mein Vertrauen in den Bundeskanzler ist so zerstört, dass ich seine jüngste Ankündigung, das modernste Flugabwehrsystem der Bundeswehr an die Ukraine zu liefern, nicht mehr als einen Sinneswandel wahrnehmen kann, sondern eine im Augenblick von ihm als ratsam empfundene Anpassung an die Erwartungshaltung des mächtigsten Bündnispartners. (Die Gleichzeitigkeit mit einer Lieferungszusage der US-Regierung bezüglich moderner Mehrfachraketenwerfer deutet auf ein Lieferungspaket hin, an dem sich zu beteiligen die Biden-Administration die deutsche Regierung nachdrücklich aufgefordert haben könnte.) ...
Angesichts all dessen haben Sie, verehrte Außenministerin, meine volle Zustimmung, wenn Sie das Wagnis, den Ukrainer*innen zum Sieg zu verhelfen, mit all Ihrer Kraft und Entschlossenheit verfolgen. Ich bin da in meiner Haltung, meiner Überzeugung und auch in meiner Bereitschaft persönliche Opfer zu bringen, ganz bei dem ukrainischen Präsidenten einschließlich seiner Grenze „Nicht um jeden Preis“.Gleichzeitig zum festen Willen, alles Mögliche zum Sieg der Ukrainer zu tun, bedarf es von Seiten der freien demokratischen Staaten einer Formulierung der Voraussetzungen, unter denen die russische Föderation wieder in die internationale Staatengemeinschaft -der sie ja formal immer noch angehört – zurückkehren kann. Dies ist einmal dringend notwendig, um der gefährlichen Darstellung, dem Westen gehe es um eine Demontierung einer Weltmacht und die Ukraine führe einen Stellvertreterkrieg, möglichst viel Wind aus den Segeln zu nehmen und zweitens, um Russland und der russischen Gesellschaft eine humane, zukunftsgerichtete Perspektive an Stelle der (Selbst)isolierung anbieten zu können.
Havixbeck, im Juni 2022
Hochachtungsvoll
Johannes Löcker