Die Ethik des Glücks der größten Zahl wird mittelbar und scheinbar nur in einer extremen Konfliktsituation, jedoch deswegen nicht weniger gesellschaftswirksam über die Schutzverpflichtung unseres Staates gestellt. Für unsere Verfassungsmütter und -väter war das noch undenkbar. Für sie galt die Schutzverpflichtung des Staates unter allen Umständen, „auch wenn das Leben der Nation“, wie Ferdinand von Schirach bezogen auf das Folterverbot die Richterin in seinem Fernsehfilm „Feinde“ sagen lässt, „durch Krieg oder einen anderen öffentlichen Notstand bedroht sein sollte.“ Wenn überhaupt jemand über sein Leben zugunsten eines anderen Leben disponieren kann, ist es ausschließlich der Betroffene selbst.Ich frage mich auch, ob die Befürworter der medizinischen Erfolgsaussicht diese auch im eigenen Leben, zum Beispiel bei einem schweren Unfall anwenden bzw. angewendet wissen wollten? Wenn die Auswahl nur zwischen engsten Familienangehörigen zu treffen ist, die in unterschiedlicher Schwere zwar, jedoch alle lebensbedrohlich verletzt sind. Falls nicht oder doch nur mit Vorbehalten und emotionalem Zurückschrecken, warum dann in der „anonymen“ Pandemielage? Was macht den entscheidenden Unterschied?
Und dann sind da noch für mich die Ärztinnen und Ärzte, die bereits heute bei nicht ausreichenden notfallmedizinischen Ressourcen z. B. bei einem Massenanfall von Verletzten Leicht- bis Schwerverletzen triagieren, von denen ich mir jedoch gut vorstellen kann, dass sie es aus tiefster persönlicher Überzeugung ablehnen, unter den gleichermaßen Lebensbedrohten die auszuwählen, die aus einer medizinischen Prognose heraus die größte Überlebenschance haben. Ohne sich weiter erklären zu müssen, handeln sie in völliger Übereinstimmung mit dem ärztlichen Eid. Kann zukünftig Öffentliches- und Standesrecht sie dazu drängen, sich opportun zu verhalten?
Und das Verfahren , jeder Lebensbedrohte wird ohne vorhergehendes Auswahlverfahren so schnell wie möglich einer Intensivbehandlung zugeführt, welches von Teilen der Ärzteschaft und ihrer obersten Standesvertretung in der Form einer Verballhornung „Wer zuerst kommt, mahlt zuerst“ als ein in dieser Situation vermeintlich wenig verantwortliches, in keinster Weise adäquates Verfahren abgetan wird, bleibt für mich die geeignetste der zumindest zur Zeit diskutierten Optionen, dem Schutzauftrag unseres Grundgesetzes nachzukommen; auch noch deutlich vor dem Losverfahren.
Hochachtungsvoll
Johannes LöckerNeuer