Zu allererst:
Ich bin sehr froh darüber, mit welcher Sorgsamkeit in den Empfehlungen um das Leben jedes einzelnen Menschen gerungen wird. Das Votum, im Fall einer Patientenpriorisierung  in diese alle zum Zeitpunkt anwesenden behandlungsbedürftigen Patienten einzubeziehen und dafür auch  alle aktuell vorhandenen Behandlungskapazitäten zur Verfügung zu stellen, macht einen gewaltigen  Unterschied zum Beispiel zu unseren französischen Nachbarn. Denn einem Interview mit einer Anästhesitin des Hospital Nord Franche-Comté konnte ich entnehmen, das dort Betten für den erwarteten Ansturm von Patienten mit wahrscheinlch günsigeren Prognosen zurückgehalten wurden. Allem Anschein nach stellen damit französische Ethikkommissionen in der Pandemie ein Konglomerat vermeinter sozialgesellschaftlicher  Aspekte sowie die Aussicht auf eine höhere Erfolgsquote bei der Menschenrettung über den schnellstmöglichen Behandlungsanspruch jedes lebensbedrohlich erkrankten Menschen.

Zu  dieser  Empfehlung kommt die der BAND. Sie warnt davor, dass  Rettungsdienste und  Notärzte die oben skizzierte umfängliche Entscheidung vor Ort treffen, sondern diese den Intensivmedizinern in den Kliniken vorzubehalten ist. Damit verfügt nun das Land über zwei sich gut ergänzende Handlungsorientierungen für die Notfallmedizin in der Krise.
Für diese Positionierung gebührt den Autoren Dank und Hochachtung.
Falls ich die Schrittfolge für die Auswahl der zu behandelnden Patienten zutreffend interpretiere, kann in den regelmäßig stattfindnenen Teambesprechungen auch entschieden werden, bei einen bereits in Intensivbehandlung befindlichen Patienten die Intensivtherapie abzubrechen, um einen Behandlungsplatz für einen neu eingelieferten Patienten mit einer deutlich besseren Prognose frei zu machen.
In dieser Option unterscheiden sich nun jedoch meine ethischen Entscheidungskriterien gravierend von der der Empfehlung. Meine ethische Wertehaltung  lässt die besagte Möglichkeit auch in einer Krisensituation nicht zu. Außer in der Zwischenzeit hat sich die Prognese eines in Intensivbehandlung befindlichen Patienten in eine Infauste entwickelt.
Die Autoren betonen, dass Ihre Position bei der Beendigung intensivmedizinischer Maßnahmen im Kontext der Priorisierung an rechtliche Grenzen stößt und an anderer Stelle, dass aus verfassungsrechtlichen Gründen  Menschenleben nicht gegen Menschenleben abgewogen werden dürfen. Gleichzeitig müssten Behandlungsressourcen verantwortungsbewusst und gerecht eingesetzt werden. Auf welches ethische Verständnis von Gerechtigkeit berufen sie sich hier? Gerechtigkeit im Sinne von Fairness als Zuweisung von Hilfe zu allererst an diejenigen, die diese am dringensten bedürfen, oder im Sinne von Chancengleichheit  oder im ethisch ultilaristischen Verständniss von Effizienz und der Verringerung von Leid der größten Zahl.
Der Widerspruch zwischen ihren ethischen Empfehlungen und den Rechtsvorgaben resultiert für die Autoren – so stellt es sich mir zumindest dar - aus einer nicht voll umfassenden Kongruenz von zwei Normsystemen. Auch das sehe ich anders. Der wahrscheinlich gegebene Strafbestand des  Abbruchs einer Intensivbehandlung aus gemeintem Grund ist die juristische Konsequenz der ethischen Norm, auf dem unsere Verfassung gründet, verbunden mit der weniger häufig zitierten Verpflichtung: „Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“  So muss ein Behandlungsabbruch auch in der Krise rechtswirdig bleiben. Die oberste ethische Norm, aus der sich unsere Gesellschaft begreift, ist in diesem Staat grundsätzlich nicht verhandelbar. Die Grenze des Verbots der Fremdverfügbarkeit eines Menschenlebens sollten wir nicht überschreiten.
Gutes Handeln ist dann die Zuweisung von allein aktuell nicht beanspruchten Behandlungskapazitäten und dazu noch solchen, bei denen sich die Prognese eines in Intensivbehandlung befindlichen Patienten in der Zwischenzeit zu einer Infausten entwickelt hat. Diese können dann dazugekommene lebensbedrohte Patienten erhalten, priorisiert auschließlich am Kriterium der medizinischen Erfolgsaussicht.
Meine Wertevorstellung führt im Ergebnis noch weiter. Lebensbedrohte Patienten sollten immer und jederzeit unmittelbar als nächste behandelt werden, falls eine Chance auf Erfolg besteht. Ich wünsche mir ein solches Vorgehen auch in Zeiten nicht ausreichender Behandlungskapazitäten und in der schwer auszuhaltenden Erwartung, dass dies höchstwahrscheinlich zusätzliche Menschenleben kosten wird. Das Votum, die  Opferzahlen durch eine Prioritätensetzung so gering wie möglich zu halten, kann auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens hoffen. Zusätzliches, die Situation  womöglich  verschärfendes gesellschaftliches Unverständnis, Anfeindungen und Verweigerungen  vermeiden.
Die Patientenpriorisierung  in einer tragischen Entscheidungssituation als am ehesten begründbar und damit als ethisch nahezu alternativlos vorzustellen, wird vermutlich diese Akzeptanz erleichtern. Dem ethischen Diskurs jedoch ist diese Überhöhung der utilaristischen Ethik wie überhaupt einer bestimmten ethischen Haltung fremd. Was sollte das auch sein, was eine gute Haltung (ethische Entscheidung) zu allerletzt über andere gute stellt?

Havixbeck, Anfang April 2020

P.S. Ich kann mir gut vorstellen, dass in einer äußerst zugespitzten Versorgungslage keine Zeit mehr für regelmäßigen Priorisierungstreffen sein wird und die damit indentierte sorgfältige und umfassende medizinische Einschätzung der gesamten Patientengruppe nicht mehr stattfinden kann.